Der Unfall
Es war alles so schnell gegangen. Lisa konnte sich kaum erinnern, wie es zu dem Unfall gekommen war. Der Audi, der sich mit der Kante seiner Stoßstange in ihren kleinen Ford gebohrt hatte, trug lediglich ein paar Beulen an der Stoßstange und an der Seite unschöne Kratzer. Ihre Fahrertür hingegen hing nur noch im unteren Teil in der Türangel, die beiden Airbags ragten wie riesige Ballons in den Innenraum, während sich kleine Rauchschwaden einen Weg durch die aufgerissene Kühlerhaube suchten.
Nun öffneten sich die Türen des Audis und ein glatzköpfiger Herr und eine Dame mit lilafarbenen Locken zwängten sich mühsam unter den geöffneten Airbags aus ihrem Auto, bevor sie auf Lisas Fahrzeug zu rannten, wobei die Dame ständig „O Gott, o Gott, Herbert“ rief. Er blieb nach einigen Schritten stehen, um mit schmerzverzogenem Gesicht sein linkes Knie zu halten, während sie weiterlief zu dem zerstörten Ford, sich durch das zersplitterte Seitenfenster beugte, um jedoch sofort erschrocken wieder zurück zu treten.
„Warum hast du an dem blöden Radio rumgefummelt“, kreischte sie und verbarg das Gesicht in ihren Händen.
„Es war höchstens eine Sekunde“, verteidigte er sich, kam nun ebenfalls bei Lisas Fahrzeug an und schrie leise auf.
„Es ist nicht so schlimm“, Lisa legte beruhigend eine Hand auf seinen Arm, als sich plötzlich alles um sie zu drehen begann. Zitternd klammerte sie sich an das Heck ihres Fahrzeugs, atmete einige Male tief ein und aus, bevor sie sich die zwei Schritte bis zum Fahrbahnrand schleppte, wo sie erschöpft zu Boden sank, während der ältere Herr weiter an ihrem kaputten Auto herumfummelte. Nachfolgende Fahrzeuge hielten an, Menschen stiegen aus, liefen aufgeregt diskutierend um die Unfallwagen herum.
Der Anblick der Berge beruhigte Lisa, doch sie zitterte trotz der wärmenden Mittagssonne. Sie zog die dünne Jacke fester um sich, legte ihre Arme über die angezogenen Beine, um ihren Kopf darauf zu betten und blickte erst beim Näherkommen der Sirenen wieder hoch. Auf einer der Anhöhen stand nun ein Mann mit dunklen Haaren in einem ungewöhnlich langen, schwarzen Mantel, der zu ihr hinüberstarrte. Zur selben Zeit hielt hinter ihr der Krankenwagen mit quietschenden Reifen, eilige Schritte liefen Richtung Unfallstelle, während noch immer Menschen aufgeregt redend zwischen den parkenden Autos herumrannten. Niemand kümmerte sich um sie, niemand schien zu registrieren, wie schlecht es ihr ging. Gerade wollte sie auf sich aufmerksam machen, da tauchte ein Schatten neben ihr auf und eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Aus der Nähe wirkten seine dunklen, streng nach hinten gekämmten Haare noch dunkler, trotz der sommerlichen Temperaturen schien er in dem viel zu warmen, langen Mantel nicht zu schwitzen.
„Du musst sofort zurückgehen.“
Seine tiefe Stimme klang streng, gleichzeitig deutete er mit dem Finger zu der Unfallstelle. Sein ernstes Gesicht, besonders der eindringliche Blick aus seinen hellblauen Augen machten Lisa Angst, sie versuchte, sich auf zu richten, doch wieder drehte sich alles um sie. Inzwischen traf der Notarztwagen ein, ein Mann in weiß-orangefarbenem Kittel rannte auf die ramponierten Autos zu.
„Geh zurück!“, schrie er sie jetzt an, während er noch immer zur Unfallstelle deutete. Mittlerweile hantieren zwei Sanitäter an ihrem Auto, einer hing bis zum Bauch durch das Seitenfenster im Innenraum, zerrte an etwas, ein Arm hing in der Luft, bevor die beiden Sanitäter einen Körper durch das Fenster zogen.
Lisa zitterte und ließ sich wieder zu Boden sinken, da griff der Mann sie unter den Armen, zerrte sie hoch und schleppte sie auf ihren Wagen zu. Inzwischen beugte sich der Arzt über den Körper, der auf eine Liege gebettet worden war. Die Anwesenden beobachteten schweigend das Geschehen, während er sie durch die Menge bis zur Liege schob. Lisa sah verklebte, schmutzig rote Haare, geschlossene Augen, erkannte ihr eigenes, blutverschmiertes Gesicht. Wimmernd vor Entsetzten klammerte sie sich an ihn, schaute an sich herab, ein Schuh fehlte, die Beine, die Hose, die Hände, überall war Blut. Schreiend klammerte sie sich an ihn, doch er stieß sie nach hinten. Noch immer schreiend stürzte Lisa rücklings im Zeitlupentempo, etwas schnürte ihr die Luft ab, sie bäumte sich auf, dann ein Aufschrei: „Wir haben sie!“
Die Augen weit aufgerissen lag sie auf der Liege, den Notarzt und die beiden Sanitäter über sich. Der Mann mit der Brille murmelte „Gott sei Dank“, seine Frau weinte, einige Umstehende applaudierten, andere lachten, einige weinten. Während die Sanitäter sie zum Wagen trugen, suchte sie vergeblich sein Gesicht in der Menge.
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