Hallali oder Stelldichein im Wald
Silke wachte noch vor Sonnenaufgang auf, schlich sich aus dem Schlafzimmer, schlüpfte in ihre Joggingsachen und rannte los. Sie genoss ihre Lieblingsstrecke durch den Wald. Das Rascheln der bunten Herbstblätter unter ihren Laufschuhen, den würzigen Duft der Erde, das nur noch vereinzelte Zwitschern der Vögel - als ein lauter Knall die morgendliche Stille durchbrach. Sie blieb stehen, konnte aber nichts Auffälliges entdecken. Da knallte es wieder.
Und mit einem Mal überkam sie dieses merkwürdige Gefühl. Die Umgebung wirkte plötzlich fremd, kalt, bedrohlich. Nur ihr lautes Schnaufen, sonst völlige Stille.
Es raschelte. Der Holunderbusch bewegte sich, die unteren Zweige bogen sich zur Seite, rotbraunes Fell schob sich zwischen Früchte und Blätter. Er trat auf den schmalen Weg, nur ein paar Schritte von ihr entfernt. Sein buschiger Schwanz streifte fast den Boden, die spitzen Ohren aufgestellt, die hellbraunen Augen auf Silke gerichtet, standen sie sich gegenüber. Das Tier atmete heftig, alle Muskeln des Körpers angespannt. Er hob eine Pfote, wagte sich jedoch nicht an Silke vorbei auf die andere Seite. Er duckte sich und schlüpfte mit einer geschmeidigen Bewegung zurück in den Holunderbusch.
Wieder raschelte es, direkt daneben. Ein Mann im Jagdanzug kroch in geduckter Haltung aus dem Gestrüpp. Ein Fernglas baumelte um seinen Hals. Bartstoppeln verdeckten sein nicht mehr ganz junges Gesicht, Brille, lange Nase, buschige Augenbrauen über dunklen Augen. In der rechten Hand hielt er ein Gewehr.
„Es ist Jagd. Haben Sie das Schild nicht gelesen? Sie sollten sich nicht im Wald aufhalten, das könnte lebensgefährlich sein“, knurrte er, während er sich zu voller Größe aufrichtete.
„Gefährlich für wen? Haben Sie nichts Besseres zu tun, als auf harmlose Tiere zu schießen?“
Silke hatte die Hände in die Hüften gestemmt. Er fixierte sie stumm von oben bis unten, bevor er sich umdrehte, den Waldweg überquerte und auf der gegenüberliegenden Seite in geduckter Haltung, Gewehr im Anschlag, im dichten Unterholz verschwand.
Silke wollte nur noch nach Hause. Doch noch während sie sich umdrehte, knallte es wieder. Ein Geschoss schlug direkt hinter ihr in den Stamm einer jungen Birke ein. Mit einem Aufschrei warf sie sich zu Boden. Im Gebüsch tauchte wieder ein Mann im Jagdanzug auf, Gewehr in der Hand. Er war jünger, sah dem anderen aber verblüffend ähnlich, die gleiche Brille, lange Nase, buschige Augenbrauen.
„Sind Sie von allen guten Geistern verlassen? Sie hätten mich fast getroffen.“
„Während der Jagd betreten Sie den Wald auf eigene Gefahr“, bellte er zurück.
„Ich betrete den Wald, wann ich will. Hören Sie doch auf, auf wehrlose Tiere zu schießen.“
„Ach, eine von der Sorte.“ Er rümpfte die Nase. „Wenn mein Vater gleich hier vorbei kommt, sagen Sie ihm, dass er auf seiner Seite bleiben soll, ich gehe auf der anderen Seite weiter.“
Noch im Reden überquerte den Weg, um an exakt derselben Stelle im Dickicht zu verschwinden, wie seine ältere Ausgabe kurz zuvor.
Silke war auf dem Rückweg, da fielen die Schüsse.
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