Herbstputz
Ein gut gefülltes Glas Rotwein in der Hand, betrachtete Anne ihr Spiegelbild. Falten, graumelierte Haare, Augenringe. Der Herbst des Lebens war keine bunte Sache, auch wenn Holger dachte, er hätte statt des nahenden Winters wieder einmal den zweiten Frühling entdeckt. Heute würde sie ihm endgültig die Augen öffnen.
„Sie ist nur die Zweitbesetzung, du bleibst die Nummer eins, ist doch klar.“ Mit einem jovialen Lächeln hatte er heute Morgen vor ihr gestanden, nachdem sie ein langes blondes Haar in seiner Unterwäsche gefunden hatte. „Für dich bleibt alles beim Alten“, hatte er hinzugefügt, sich die Aktentasche unter den Arm geklemmt und mit einem „Heute wird es später“ von ihr verabschiedet.
Nachdem der Schlüsseldienst das Türschloss ausgetauscht hatte, arbeitete sie sich durch sämtliche Schränke im Haus. Stundenlang stopfte sie seine Sachen, egal ob Bücher, Lieblingstasse, Plattenspieler in Müllsäcke - Hemden, Hosen, Anzüge hingen noch auf Kleiderbügeln - und stellte alles raus in den strömenden Regen.
Jetzt steuerte sie in seinem Arbeitszimmer auf seinen Schreibtisch zu. Der Flachbildschirm leistete den Müllsäcken Gesellschaft. Tastatur und Maus wurden in Cola ertränkt. Der Rechner fand sein nasses Ende in schottischem Whiskey, eine Rarität, Sammlerstück. Sie konnte seine Stimme hören, als stünde er neben ihr, während sich die goldbraune Flüssigkeit über das Metallgehäuse ergoss. DVD-Schlitz und Schnittstellen verpasste sie eine Ladung Kleber, fuhr dann mit dem Pritt-Stift großzügig über seinen Luxus Chefsessel mit Synchronmechanik, bevor sie den Kleber kopfüber in den wohlsortieren Stifte-Köcher steckte.
Gerade wollte sie sich dem Keller zuwenden, da klingelte es Sturm.
Holger. Hochroter Kopf. Sein Schlüssel kratzte am Schloss. Gleichzeitig hämmerte er gegen die Haustür, seineStimme überschlug sich.
Sie nahm einen großen Schluck Wein.
Er lärmte an der Terrassentür, klopfte gegen die Scheibe.
Sie öffnete eine neue Flasche.
Der Motor seines Audis heulte auf. Die Reifen quietschten, als der Wagen aus der Einfahrt schoss.
Das Glas in der Hand, stieg sie die steilen Stufen nach unten. Wie lange hatte sie diesen Raum nicht mehr betreten. Die Leuchtstoffröhre surrte, bevor sie mit einem Pling die Landschaft in helles Licht tauchte. Berge, Bäume, Häuser, umgeben von Schienen, Lokomotiven, Waggons. In akribischer Kleinarbeit gebastelte Polyester-Bahnhöfe, Dekormoos-Landschaften. Sie schlenderte ein paar Schritte in den Raum, stolperte wie zufällig über eine Elektro-Lok, die mit leisem Rappeln zur Seitefiel, stolperte über eine Dampf-Lok, Original-Nachbildung, natürlich eine Rarität, Einzelstück. Die Namen hatte sie sich nie gemerkt, nur die Preise. 5.000 hier, 10.000 dort. Eine Lok geriet jetzt durch ihren Tritt so heftig aus den Schienen, dass sie eine weiße Umzäunung zerstörte, zwei Kühe unter sich begrub, bevor sie in einem bayerischen Bauernhaus einschlug. Wohltuend, fast wie eine Massage fühlten sich die Plastikkörper, Gummitiere, Kunststoffschienen unter ihren Pantoffeln an, wie Musik das Knacken und Knirschen.
Noch einen Schluck Wein, dann schleppte sie den Werkzeugkasten aus dem Nebenraum heran. Jedes Mal, wenn der Hammer auf einen Waggon niedersauste, stieß sie einen Freudenschrei aus. Die einzelnen Teile stoben durch den Kellerraum, handbemalte Reisende - stehend, sitzend - Paare, Familien mit Kindern, alle wurden unsanft aus dem Inneren der Waggons katapultiert, landeten - manche im Ganzen, die meisten jedoch zerstückelt - auf den Schienen, die zum Teil noch immer einen halbwegs ovalen Kreis beschrieben.
Das einzige unbeschädigte Objekt war jetzt die Brücke, die Schlossbach-Brücke. Sein ganzer Stolz. Das Wahrzeichen des Karwendelgebirges und eine Besonderheit der Technologie. Sie war damals tatsächlich eifersüchtig gewesen. Wegen einer Brücke. Eifersüchtig auf Lokomotiven, Schienen, Gummischweine und Plastikfrauen.
Sprengen, sie spürte unbändige Lust auf sprengen. Die Vorstellung, seine geliebte Brücke mit einem riesigen Knall durch die Luft zu jagen und all die anderen übriggebliebenen Kunststoffteile dazu, überschwemmte ihren Körper regelrecht mit Endorphinen.
„Rudi?“, atemlos, den Weg vom Keller rauf zum Telefon hatte sie in Rekordzeit zurückgelegt, überfiel sie ihren Bruder ohne Einleitung „ich brauch was zum Sprengen. Böller oder so.“
Rudis „Wofür?“ ließ sie verzweifelt die Hände ringen.
„Wühlmäuse im Garten“, sie schickte ein stilles Dankgebet an die Verleger des Hochglanzkalenders, dessen Oktoberblatt ein an der Erdoberfläche wühlendes graubraunes Etwas zeigte. Wühlmaus stand darunter.
„Gift kriegst du im Baumarkt. Böller kann Holger im Internet bestellen. Ist er da oder noch in seiner Kanzlei? Ich hab eine neue Lok im ‚Modeleisenbahner‘ ...“
Mit einem „Danke, Rudi“ drückte sie ihn weg.
Sprengen kam also nicht in Frage, Böller im Internet zu bestellen dauerte viel zu lange.
Sie brauchte unbedingt noch Wein. Der unterstützte ihren Denkprozess, förderte ihre Kreativität. Und tatsächlich, beim nächsten Glas kam die Idee. Feuer. Schon kramte sie nach Streichhölzern, doch die Plastikdinger brannten nicht, sie stanken bloß. Aber vielleicht die Verpackungskartons, alle fein ordentlich an der Wand gestapelt. Also, Streichholz ran - es dauerte eine Weile, dann endlich eine Flamme. Erst drohte sie, aus zu gehen, dann brannte der Karton. Zufrieden schloss sie die Tür. Ging nach nebenan, zerrte Bohrmaschine und Stichsäge aus ihren Schubladen, Hammer, Dübel und Schraubenzieher, alles landete auf dem Boden.
Plötzlich roch sie Verbranntes. Qualm drängte durch die Ritzen der geschlossenen Tür, sie holte nasse Handtücher. Der Qualm drängte immer weiter in den Kellerflur. Sie riss die Tür auf. Rauchschwaden, wachsende Flammen. Sie versuchte es mit dem Gartenschlauch, doch der war zu kurz. Sie schleppte Wassereimer.
Endlich waren die Flammen gelöscht. Sie stand knöcheltief im Wasser.
Da klingelte es wieder.
Auto mit Blaulicht, drei Gestalten in Uniform vor ihrer Haustür. Die Feuerwehr? Oder Holger und seine guten Kontakte zur Polizei? Nur weil sie das Schloss ausgetauscht hatte.
Vorsichtig öffnete sie dieTür einen Spalt breit.
„Hat mein Mann Sie geschickt?“
Alle drei schüttelten den Kopf. Einer trat einen Schritt vor.
„Es tut uns sehr leid. Ein tragischer Unfall. Ihr Mann.“
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