Wie schwer wiegt eine Sekunde?

 

Petras Hand zitterte, während sie in der Tasse rührte. Der Kaffee war schon längst kalt geworden. Die Kaffeeflecken auf dem hellen Fliesenboden wirkten zwischen den Scherben wie Blutspritzer. Sie spürte Franks Gegenwart, als säße er ihr noch immer gegenüber, das Haupt gesenkt, den Blick angestrengt auf die Tasse vor sich gerichtet, während er mit dem Löffel Bahnen durch den üppigen Milchschaum zog.

„Ich werde ausziehen.“

Drei Worte gesagt in einer Sekunde. Die Bilanz von dreißig Jahren.

„Wir brauchen mehr Zeit“, hatte sie gestammelt.

Er hatte bloß wortlos den Kopf geschüttelt.

„Gehst du zu ihr?“

Er schwieg, während sie mit hämmerndem Herzen da saß. Jede Frage, die durch ihren Kopf raste, hatte sie schon oft gestellt, jeden Vorwurf gemacht. So verließ nur ein resigniertes Wimmern ihren verschlossenen Mund.

„Es ist nicht deine Schuld, wir hätten es damals schon beenden sollen“, stotterte er nun, während er mit zitternder Hand den Löffel aus dem Milchschaum zog, um ihn hastig in seinen Mund zu schieben. Ein Klecks weißer Schaum hing an seiner oberen Lippe. Sie musste die Hände zu Fäusten ballen, um nicht nach dem Löffel zu schlagen.

„Wir sind beide noch jung genug für einen Neuanfang.“

Natürlich, einem Mann verliehen graue Haare Männlichkeit und eine gewisse Würde, Falten versprachen Erfahrung und Zuverlässigkeit. Die Falten einer Frau von fünfzig weckten bei keinem Mann lustvolle Gefühle. Mit einer heftigen Bewegung fegte sie seine Tasse vom Tisch. Er sprang auf, den Löffel noch in der Hand.

„Verlass mich nicht!“

Die Worte dröhnten durch ihren Kopf wie eine Beschwörungsformel, verkrampften sich in ihren Eingeweiden wie eine fettige Mahlzeit, doch sie sprach die Worte nicht aus. Stattdessen trafen sich ihre Blicke und sie sah seine Furcht, sein Ringen nach Stärke, nach Strenge und Festigkeit. Sie würde sich nicht an ihn hängen, um ihn kämpfen, sie würde nicht betteln. Diesmal nicht.  

Er schlug die Augen nieder und schob den Stuhl an den Küchentisch. Sie hörte seine Schritte im Flur, dann war die Haustür ins Schloss gefallen.

„Ja, geh nur, geh“, flüsterte sie nun, schob ihre Tasse kalten Kaffee mit einem Ruck zur Seite und griff unvermittelt nach einer Strähne ihrer gefärbten Haare. Seit damals trug sie Rot. Um die Beziehung zu kitten. Sie hatte sich verkleidet, maskiert, für ihn. Weil er geblieben war und nicht zu ihr, der Rothaarigen, gegangen war. Petra schüttelte sich.

„Schluss mit dem Verkleiden“, knurrte sie und fegte seinen abgeleckten Löffel vom Küchentisch.  

 

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